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Donnerstag, 16. November 2017

Die neuen Sklav*innen

“Ein Freund hatte mir gesagt, dass ich Arbeit finden und die Möglichkeit haben würde etwas Geld zu verdienen. Ich muss weiterhin meine Frau und meine Kinder ernähren, nachdem ich meine Arbeit in Rom verloren habe, wo ich seit vielen Jahren lebe. Aber er hatte mir nicht gesagt, dass ich in diese Hölle geraten würde.“ 



„Ich schäme mich an diesem Ort zu leben und ich schäme mich es meiner Frau zu erzählen. Daher lächele ich am Telefon, aber eigentlich würde ich so gern zurück, auch wenn ich es nicht kann. Deshalb lasse ich mich ausnutzen, lasse mich von Euch Italiener*innen für wenige Euro demütigen. Wenigstens kann ich dann meiner Tochter ein Weihnachtsgeschenk kaufen, obwohl wir Muslim*innen sind, aber sie ist hier geboren und möchte wie alle anderen Kinder feiern. Sie ist Italienerin, aber für Euch bleiben wir Ausländer*innen und deshalb können wir nur Sklav*innen sein; bitte fotografiert mich nicht, ich möchte nicht, dass meine Tochter oder die Mutter einer ihrer Freundinnen mich so sieht: sie würde nur noch mehr ausgegrenzt werden.“

Das sind die Worte eines Vaters, einer der vielen die ich hier an diesem neuen Ort, der im Umland von Campobello di Mazara entstanden ist, getroffen habe. Ein Ort, dessen Luft fast nicht einzuatmen ist, weil die hygienischen Zustände denen einer Müllhalde gleichen.

Wenige Menschen wollen sprechen, wenige wollen uns in die Augen sehen, sie schämen sich zu sehr. Wenige haben Lust, abermals von einem Weißen zu ihren Arbeitsbedingungen befragt zu werden. Eine weitere von vielen Demütigungen nach den Erlebnissen in Libyen oder in den Aufnahmezentren.

Es fühlt sich an wie das Versagen der Menschheit, wie auch an anderen Nicht-Orten. Campobello folgt den Kriterien und dem Diktat eines kriminellen Gesetzes, das Unsichtbare „produziert“, um sie auszubeuten. Es dient dem Erhalt einer Landwirtschaft, die sich inzwischen nur noch auf die neuen Sklav*innen stützt, die teilweise jung und teilweise in die italienische Gesellschaft integriert sind, aber immer Sklav*innen bleiben.


Der Eindruck bestätigt sich, dass wir Ousmane zum zweiten Mal getötet haben, weil die Umstände heute in der Zeltstadt „Erbe Bianche“ schlechter sind als zum Zeitpunkt seines Todes, der von einer Politik verursacht wurde, die sich nur nach den Interessen der Produzenten und den großen Unternehmen in der Oliven- und Ölproduktion richtet.

Nach drei Jahren Erfahrung im Zusammenhang mit der ehemaligen Ölmühle von Fontane D’oro, haben der Präfekt und die an der Ernte interessierten Kommunen dieses Jahr eine unzumutbare Entscheidung getroffen. Während noch auf die Ankunft der Arbeiter*innen gewartet wurde, haben sie versucht Zeit zu gewinnen. Die Zivilgesellschaft hingegen hat sich darum bemüht, eine menschenwürdigere Lösung zu finden. Letztendlich hat man sich dazu entschlossen, keine Entscheidung zu treffen und die ehemalige Ölmühle sogar ganz zu schließen. Man hat dadurch eine Auseinandersetzung unter den Migrant*innen riskiert, die um einen der 250 festen Plätze auf dem Gelände hätten streiten müssen, das inzwischen das Zuhause der Erntehelfer*innen geworden ist. Auch in dieser Hinsicht hat die Politik kläglich versagt, während die Arbeiter*innen, mit einer Solidarität die mittlerweile auch innerhalb der sozialen Bewegungen, welche immer auf der Suche nach Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit sind, kaum noch zu finden ist, sich dazu entschlossen haben nicht hineinzugehen und das Areal unbesetzt zu lassen. 


Die Entscheidung war letztendlich auch darauf basiert, dass nur einer geringen Anzahl an Personen Zutritt gewährt wurde, während weitere tausend ausgeschlossen wurden. In jeglicher Hinsicht ist die Aussicht auf Zutritt völlig unrealistisch für die meisten von ihnen.

Wir sind neugierig darauf vom Bürgermeister zu erfahren, wie die 52.000 Euro aus öffentlichen Geldern, welche für die Aufnahme von Saisonarbeiter*innen zur Verfügung gestellt wurden, eingesetzt wurden, angesichts der Tatsache, dass die alte Ölmühle – als wir hineingegangen sind – vollkommen leer war und nur mit dreckigen Bädern und Duschen sowie kaltem Wasser ausgestattet war, wie bereits beim vergangenen Mal. 52.000 Euro für ein Geländer? Es ist das einzig sichtbare Element welches das Gebäude umgibt, das heute ein SPRAR* beherbergt.

Viele Fragen bleiben ohne Antworten, weil der Anblick der Zeltstadt einen wirklich sprachlos macht und die Tatsache, dass dies von einer Institution so gewollt ist, lässt einen bitteren Nachgeschmack zurück. In Erbe Bianche, das inzwischen berühmte Viertel von Campobello, hört die Menschlichkeit auf und wir fragen uns, wie die Jugendlichen, Männer und Frauen die Demütigungen ertragen, nach allem was sie erlebt haben.

„Ich bin 58 Jahre alt und Ingenieur, ich bin Sudanese und lebe seit 19 Jahren in Rom. Wie Du siehst, wohne ich in einem Auto, welches ich am Tag dafür nutze Holz aufzusammeln und Wasser zu erhitzen, dass ich dann für 50 Cent pro Eimer verkaufe. Ich schaffe es nicht mehr, Oliven zu sammeln, deshalb habe ich mir diese Arbeit ausgedacht, denn anderenfalls würden meine Freunde vor Kälte sterben. Wir haben kein Wasser, kein Licht und mit vier Planen und vier Holzbrettern habe ich eine Dusche gebaut, die immerhin noch besser ist als die der Gemeinde, erstens weil sie sauber sind und zweitens weil das Wasser warm ist. Und dann riechst Du den Gestank der Bäder und siehst, dass sie seit einem Monat hier sind und nie jemand gekommen ist um sie zu reinigen. Wir riskieren krank nach Hause zu fahren. Was glaubt ihr denn wie Bäder sauber bleiben sollen bei 1800 Menschen die dreckig von den Feldern zurückkommen? Eine Toilette für 90 bis 100 Personen, das ist unmenschlich.“

Wir können D. nicht widersprechen und setzen unseren Rundgang durch das Dorf Erbe Bianche in dem Bezirk von Campobello fort, in welchem wir einen Tabakverkäufer, verschiedene Restaurants, Gemüsehändler, einen Schuh- und Klamottenladen, Metzger und einen Barbier vorfinden. Eine kleine, schmutzige, übelriechende, verlassene Stadt, in welcher wir viele unbegleitete Minderjährige vorfinden, welche die Gemeinde verlassen haben, der sie zugewiesen wurden oder die aus dem Norden kommen um ihren Eltern zu helfen wenn diese ihre Arbeit verloren haben. Die meisten von ihnen stammen aus dem Senegal, aber es gibt auch eine große Anzahl an Nordafrikaner*innen. Einige tragen noch die Kleidung der Anlandung, wo sie auch den Bescheid der „Seven Days“* erhalten haben. Man findet hier wirklich alles, es scheint an nichts zu fehlen: noch nicht mal die nigerianischen Mädchen, welche in einem Zelt zur Prostitution gezwungen werden. Auch hier hat jemand die Situation ausgenutzt um daraus Gewinn zu schöpfen. Eine Stadt, die völlig im Dunkeln liegt, in welcher die Nacht früh anbricht und in welcher Diskriminierung Teil des Alltags sind.

Die Lokalbevölkerung verhängt die Ausgangssperre vom späten Nachmittag an und so sind die Migrant*innen die einzigen die durch Campobello laufen, um ihr weniges Geld in den Bars, in den Geschäften des Ortes auszugeben, wo nichtsdestotrotz ein starker Rassismus vorherrscht.

Auch in diesem Jahr, weigert man sich Wohnungen an Schwarze zu vermieten. Es gibt keine angemessene medizinische Versorgung und der Notruf reagiert nicht in der nötigen Geschwindigkeit. Die Jugendlichen haben uns mehrmals von diesen schrecklichen Vorfällen berichtet und einmal waren wir sogar selbst dabei: wir konnten feststellen, dass auf die Anrufe der Migrant*innen nicht geantwortet wurde, während man unseren Anruf sofort entgegennahm. Der Krankenwagen ist nach nur 10 Minuten erschienen (während sie es für zwei Stunden versuchten). Sofort nachdem der Krankenwagen eingetroffen war, haben der Fahrer und der Krankenpfleger die Dame einsteigen ließen und beschwerten sich dabei den „Taxi- Service für diese Schwarzen“ machen zu müssen, „denen ja eh nichts fehle.“ Nur aufgrund unserer Anwesenheit, haben sich die Gemüter der verzweifelten und müden Menschen nicht weiter erhitzt, welche den Fahrer nur gebeten haben seine Pflicht zu erfüllen und den Arzt ein Urteil fällen zu lassen. Nur zur Klarstellung, die Dame wurde anschließend wegen Problemen mit dem Blutdruck stationär aufgenommen.

F., auch er Senegalese, sagt: “Ich werde nicht mehr kommen. Ich komme von Borgo Monero wo ich in der Landwirtschaft arbeite und da es dort keine Arbeit im Moment gibt, bin ich zum ersten Mal hierher gekommen. Aber für 3 Euro pro Kiste ist das hier keine Arbeit, sondern Sklaverei und in diesen Umständen zu leben ist wirklich unmöglich. Ich mache das noch eine Woche und dann gehe ich weg aus dieser Hölle.

3 Euro pro Kiste bedeutet, dass die Preise im Vergleich zum Vorjahr noch weiter gefallen sind, aufgrund des institutionellen Desinteresse, das nur einer größeren Ausbeutung der ArbeiterInnen dienen und damit die altbekannten Verdächtigen weiter bevorteilen soll: ein institutionelles Versagen um somit die Voraussetzung für neue Sklaverei zu schaffen.

„Ich bin hier und warte darauf, dass meine Aufenthaltsgenehmigung erneuert wird. Ich warte seit zwei Monaten, man hat mich immer noch nicht angerufen und ich muss doch trotzdem überleben. Warum vergeht denn so viel Zeit nur für eine einfache Erneuerung? Das kann nicht sein, es geht einem hier so schlecht, es ist kalt, wir leben in Mitten von Schlamm und ich muss immer noch warten.“ Institutionelles Desinteresse und bürokratische Ineffizienz, welche innerhalb der Zeltstadt neue Formen der Ausbeutung und Schattenwirtschaft haben entstehen lassen, wie etwa betrügerische Verträge, gefälschte Aufenthaltsgenehmigungen, um das an die Migration gekoppelte Business weiter sprießen zu lassen.


Auf unserem Rückweg überqueren wir erneut das Dorf aus Eternit, tierischen Überresten und Schlamm, vorbei an Nigerianer*innen, Senegales*innen, Tunesier*nnen und Gambier*innen. Alle bitten uns ihnen zu helfen bei der Bearbeitung der Aufenthaltsgenehmigungen und so mancher der uns nicht kennt bietet sich uns sogar auf folgende Weise an: „Ich will arbeiten, ich bin jung, ich gebe mich mit allem zufrieden.“ Leider müssen wir S., den jungen Senegalesen der aus Mailand kommt, enttäuschen. Er hat das Gymnasium beendet, hat aber nicht die Möglichkeit eine Universität zu besuchen. Er spricht sehr gutes Italienisch und ist gekommen um seiner Mutter und seinen zwei kleinen Geschwistern zu helfen. S. hat seiner Mutter nicht gesagt, wo er wohnt und welche Arbeit er verrichtet, er hat nur gesagt, dass er von vielen Freunden umgeben ist.

Ja, 1799 Freunde, die sich helfen und sich respektieren, aber welche von uns nicht respektiert werden und welche wir zu Sklav*innen machen wollen: zu neuen Sklav*innen.

Und während wir weggehen, kehren viele von den Feldern zurück, zu Fuß oder auf den Lastern der Bauern, die ihnen einen Treffpunkt auf dem Marktplatz des neuen Dorfes nennen, um für weitere 14 Stunden für 3 Euro pro Kiste zu arbeiten.

Seien wir uns bewusst wenn wir in die Supermärkte gehen, dass unser Öl oftmals von dem Schweiß und dem Blut der neuen Sklav*innen getränkt ist.

Alberto Biondo

Borderline Sicilia


*SPRAR: SPRAR - Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo: Schutzsystem für Asylsuchende und Geflüchtete, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis (keine staatliche Verpflichtung), ca. 3000 - 3500 Plätze in ganz Italien. Soll zur Integration der Geflüchteten dienen.

*Seven Days - ein Ausweisungsbescheid mit der Aufforderung, das Landesterritorium Italiens binnen sieben Tagen zu verlassen.


Aus dem Italienischen von Giulia Coda