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Donnerstag, 6. Juli 2017

Oxfam, Borderline Sicilia, MEDU: „Misshandlung, Folter und illegale Haft in der Hölle von Libyen“

Ein neuer Bericht zeigt die täglichen Brutalitäten der lokalen libyschen Milizen an, der Schlepper und der kriminellen Banden, die gegenüber Migrant*innen in Libyen auf der Tagesordnung stehen. Ein dringender Appell, das Abkommen zwischen Italien und Libyen zu widerrufen und den Kurs der EU-Migrationspolitik zu ändern.
Foto: Ankunft auf Sizilien - Foto Alessandro Rota, Oxfam



Rom, 6. 7.2017 – Gewalt jeglicher Art, illegale Haft, Vergewaltigung und Folter. In dem neuen Bericht „Die Hölle jenseits des Meeres“, der heute von Oxfam, Borderline Sicilia und MEDU (Ärzte für die Menschenrechte) verbreitet wurde, klagen Migrant*innen und Geflüchtete an, dass sie in Libyen oben genannte Behandlung ertragen mussten. Der Bericht wurde anlässlich des EU-Gipfels der Innenminister in Tallinn und der Konferenz "Solidarität und Sicherheit" veröffentlicht, die heute vom Außenministerium, der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini und den Außenministern der afrikanischen Migrationstransitstaaten in Rom einberufen wurde. Beide Treffen zielen darauf ab, die Südgrenze Libyens „zu schließen“ und die europäische Zusammenarbeit mit dem nordafrikanischen Land zu stärken.

Im „Hintergrund“ befinden sich hingegen hunderte Personen, die in den letzten zwölf Monaten auf Sizilien angekommen sind. Sie berichten davon geschlagen, missbraucht, verkauft und von den lokalen Milizen, Menschenhändlern und bewaffneten Banden, die große Teile Libyens kontrollieren, illegal inhaftiert worden zu sein. Männer, Frauen und Kinder auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und Armut in ihren Heimatländern. Sie kamen mit der Erwartung und der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Libyen, in das Land, das zum Hafen Europas geworden ist. Erst dort bemerken sie, dass sie in der Hölle gelandet sind.


“DU FÜHLST DICH NICHT MEHR ALS MENSCH”, ZEUG*INNEN DES MISSBRAUCHS IN LIBYEN.
Dieser Satz fasst die Aussagen vieler Zeug*innen zusammen. 84 Prozent der befragten Personen haben ausgesagt eine menschenunwürdige Behandlung erlitten zu haben, darunter brutale Gewalt und Folter. 74 Prozent der Befragten haben ausgesagt die Tötung oder Folter eines Mitreisenden miterlebt zu haben. 80 Prozent haben ausgesagt ohne Wasser und Nahrung geblieben zu sein und 70 Prozent der Befragten berichteten davon in offiziellen oder inoffiziellen Haftanstalten gefangen gehalten worden zu sein.

„Auf der Straße in Tripolis wurde ich von einer bewaffnete Gruppe verhaftet, erzählt H.R, 30 Jahre aus Marokko. Sie haben mich in ein unterirdisches Gefängnis gebracht und sie haben mir gesagt, dass sie Lösegeld von meiner Familie fordern. (…) Sie haben mich wiederholt geschlagen und mit einem Messer verletzt. (…) Ein Muskel in meinem linken Arm ist komplett gerissen. (…) Ich wäre fast wegen der Schläge gestorben. (…) Es wurden systematisch Menschen vergewaltigt. Um uns einzuschüchtern, wurden die Schreie anderer Insassen in vielen Räumen per Lautsprecher übertragen.“

„(...) Im Gefängnis waren rund 300 Personen (…). Ich musste alle möglichen Arbeiten erledigen (…). Sie gaben uns nur selten zu essen. Sie haben mich geschlagen, manchmal haben sie mich gefoltert (...)“, fügt C.B., 28 Jahre, aus Gambia nach Libyen gekommen, hinzu.

„(...) Ich habe mein Land verlassen und bin meinem Bruder nach Libyen gefolgt, erinnert sich K.M., 27 Jahre, aus der Elfenbeinküste, interviewt im Aufnahmezentrum für Asylsuchende von Mineo. Eines Tages drang eine Gruppe von Soldaten in unser Haus ein. (…) Sie haben mich geschlagen und vor den Augen meines Bruders und meiner Tochter vergewaltigt. Mein Bruder versuchte mich zu verteidigen, auch er wurde daraufhin heftig geschlagen (...)“.

„Die Zeugenaussagen sind dermaßen grausam, sie gehen an die Grenzen unseres Verständnisses, bestätigt die Verantwortliche der Kampagne von Oxfam Italien, Elisa Bacciotti. Die Erzählungen der Migrant*innen die wir mit dem Projekt Open Europe seit einem Jahr in vielen Teilen Siziliens betreuen, erwidern inakzeptable Fakten über die andere Seite des Mittelmeeres. Gegenüber diesen Tatsachen muss man sich fragen, sagt Bacciotti abschließend, wo bleibt Europas Sinn für die Menschlichkeit und der vieler seiner Mitgliedsstaaten? Im besten Fall scheinen diese auf dem Gipfel von Tallinn Italien und den afrikanischen Staaten Hilfe bei der Grenzsicherung anzubieten, aber keine Unterstützung beim Schutz der Menschenrechte.“

Foto: Bootsfriedhof in Pozzallo (Provinz Ragusa) - Alessandro Rota, Oxfam


DIE AUSWIRKUNGEN DER „SCHLIEßUNG“ DER ZENTRALEN ROUTE ÜBER DAS MITTELMEER
Angesichts der offenkundigen Verletzungen der Menschenrechte von Migrant*innen in Libyen erwecken die Pläne Italiens und der Europäische Union besondere Besorgnis, härtere Kontrollen der Migrationsströme anzustreben, nicht nur zwischen Italien und Libyen. Durch finanzielle Hilfen soll die Zusammenarbeit mit Transitländern wie Niger, Mali, Äthiopien, Sudan und Tschad verstärkt werden. Die Zusammenarbeit betrifft Grenzkontrollen und Rückführungs- und Abschiebemaßnahmen, aber sieht keine Bedingung vor, die Länder an die Einhaltung der Menschenrechtsstandards gegenüber Migrant*innen zu binden. Diese Maßnahmen zeichnen das Bild einer Schließung der zentralen Mittelmeerroute, ohne reguläre und sichere Einreisemechanismen nach Italien und Europa geplant zu haben. Dadurch besteht das Risiko, dass für die Menschen auf der Flucht vor Konflikten, Missbrauch, Gewalt, Hunger und Armut, „neue Höllen“ entstehen werden.

“Ein Szenario bei dem das Leben von hunderttausenden Migrant*innen in die Hände von Menschenhändlern fällt, die nicht nur rund um das Mittelmeer aktiv sind, sondern auch direkt in Libyen und auf dem afrikanischen Kontinent. Dadurch steigt die Zahl der Toten im Meer. 2016 starben fast 6.000 Menschen bei der Überfahrt, 1985 Tote wurden seit Jahresbeginn registriert,“ fügt Bacciotti hinzu. Zu diesem inakzeptablen Szenario kommen die Auswirkungen der ersten Rückführungen nach Libyen hinzu.

„Das Abkommen, das Italien mit der sogenannten libyschen nationalen Einheitsregierung von Al Sarraj vereinbart hat, sieht eine Rückführung der Personen vor, falls es tatsächlich umgesetzt wird. Eine Rückführung in ein Land in dem das Chaos regiert, die Rechte jener Menschen die vor Krieg und Armut fliehen systematisch verletzt werden und wo Aufnahmezentren für Migrant*innen regelrechte „Lager“ sind“, sagt Bacciotti.

„Bereits 2012 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Italien für durchgeführte kollektive Abschiebungen auf dem Seeweg nach Libyen verurteilt. Italien musste sich wegen Verletzungen des Verbotes der unmenschlichen und unwürdigen Behandlung, laut Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verantworten. Das dafür verantwortliche bilaterale Abkommen mit dem Gheddafi-Regime stammt aus dem Jahr 2008, erklärt Germana Graceffo von Borderline Sicilia. Der internationale Strafgerichtshof in Den Haag ermittelt heute gegen Libyen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es ist inakzeptabel, dass die italienische Regierung durch solche Abkommen zum Komplizen dieser Verbrechen wird, für die sie sich früher oder später verantworten muss.“

Diese Abkommen sind nicht nur aus Sicht der Menschenrechte bedenklich, sondern zeigen sie auch wenig Wirkung. Trotz der Ausbildung der libyschen Küstenwache, zum Teil durch die Mission Eunavformed, und ihre Ausrüstung mit Motorbooten durch Italien, sind die Ankünfte über den libyschen Seeweg im Vergleich zum selben Zeitraum des Vorjahres um 13 Prozent angestiegen.


APPELL AN ITALIEN UND AN EUROPA: DER KURS MUSS SICH RADIKAL ÄNDERN
Im Hinblick auf ein extrem zerbrechliches Land in dem, laut Schätzungen der Vereinten Nationen, 1,3 Millionen Personen humanitäre Hilfe benötigen, fordern Oxfam, Borderline Sicilia und MEDU in einem dringenden Appell eine radikale Kursänderung der europäischen und italienischen Politik bezüglich des Managements der Migrationsströme:

- sofortiger Widerruf des Abkommens zwischen Italien und Libyen;
die Überarbeitung der Abkommen mit Transitländern (den sogenannten Compacts) mit dem Ziel die nachhaltige Entwicklung in den armen Ländern und die Einhaltung der Menschenrechte von Migrant*innen zu unterstützen. Grenzkontrollen sollten nicht Teil des Abkommens sein.

- Die Mitgliedsstaaten sollen daran gehindert werden, Abkommen mit Einwanderungs- und Transitländern abzuschließen, deren Regierung und Sicherheitskräfte keine volle Einhaltung der Menschenrechte garantieren.

- Italien soll zu einer frühzeitigen Identifizierung, zur Unterstützung und Rehabilitation von Folteropfern unter den Asylantragstellern verpflichtet werden, wie vom europäischen Gesetz vorgeschrieben;

- Sichere und reguläre Wege der Einwanderung nach Europa sollen verstärkt werden; die Prozeduren der Familienzusammenführung sollen beschleunigt werden und die Möglichkeit, einen Asylantrag im europäischen Ankunftsland zu stellen, soll garantiert werden;

- Abschiebungen von EU-Staaten in Herkunftsländer sollen nur durch festgelegte Maßnahmen und unter Achtung der Menschenrechte durchgeführt werden. Dabei sollen die Betroffenen nie in Gefahr gebracht werden.


Den vollständigen Bericht „Die Hölle jenseits des Meeres“ finden Sie hier.

Borderline Sicilia


Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner