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Mittwoch, 14. Juni 2017

Die Aufnahme von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten in Caltanissetta: Der Nespolo in Butera

Die Nachrichten bezüglich der Unauffindbarkeit und der Flucht von tausenden unbegleiteten minderjährigen Migrant*innen sind besorgniserregend. Sie zeigen eine immer schwieriger werdende Lage auf, die von den zuständigen Behörden mit der größtmöglichen Eile begegnet werden sollte. Der kürzlich erschienene Bericht von UNICEF und CNR IRPPS “Verlassen. Geschichten von Minderjährigen, die alleine in Italien angekommen sind“ spricht von 28.223 Minderjährigen, die im Jahr 2016 in Italien angekommen sind – eine Rekordzahl. Von ihnen sind 6.508 Minderjährigen “unauffindbar” geworden (aktualisierte Zahlen vom November 2016). 


Das Erstaufnahmezentrum für unbegleitete minderjährige Geflüchtete in Butera (CL)




Um die Gründe nachzuvollziehen, die sehr junge Migrant*innen dazu bringen, die Erstaufnahmezentren zu verlassen und „unsichtbar“ zu werden, mit dem Risiko in die Fänge von Ausbeutern zu fallen und in die Illegalität abzurutschen, darf man nicht die Langsamkeit der Verwaltungsbehörden und die Arbeitsweise manches Erstaufnahmezentrums außer acht lassen. Wenn man diese zwei Aspekte betrachtet, findet man schnell die Antwort zu diesem wahrhaftigen sozialen Ausnahmezustand, der mit der gebotenen Eile und geeigneten Maßnahmen begegnet werden sollte.

Bei unserem Monitoring im Raum Caltanissetta haben wir häufig Beschwerden von ehemaligen Bewohner*innen über die Einrichtung Il Nespolo in Butera bei Caltanissetta gehört. Aus den Zeugenaussagen, die wir gesammelt haben, geht hervor, dass auch nach 8 Monaten Wartezeit keine Papiere ausgehändigt wurden und dass sogar die Beschwerden der Bewohner*innen mit der Androhung der Entlassung aus der Einrichtung und der darauffolgenden Verlegung in andere Zentren beantwortet wurden.

Am letzten 17. Mai haben wir den Nespolo besucht, wo wir die Möglichkeit hatten, direkt mit dem dort arbeitenden Team zu sprechen und über die aktuelle Lage unterrichtet zu werden. In diesem Gespräch haben wir erfahren, dass dort derzeitig 6 Erzieher*innen plus 3 Mediator*innen, ein Sozialarbeiter, Aushilfen und der Koordinator beschäftigt sind.

Die Einrichtung ist ein ehemaliges Hotel, das mit den Mitteln aus dem Topf „Italia ’90“ in einem ländlichen Gebiet zwischen Mazzarino und Butera gebaut wurde und eine Luxusherberge hätte werden sollen. Sie befand sich aber in einem Zustand der Verwahrlosung von Beginn der Bauarbeiten an und wurde im Jahre 2016 von der Genossenschaft „Il Nespolo“ aus Gela übernommen und in ein Erstaufnahmezentrum umgewandelt.

Die Genossenschaft verwaltet zurzeit nur diese Einrichtung und scheint gewillt zu sein, den Ausbau des Zentrums voran zu treiben und damit höhere Anzahl an Bewohner*innen aufzunehmen. Das Zentrum befindet sich auf dem Land, sehr weit von Butera und mehr als 6 Km von Mazzarino entfernt. Diese Entfernung wird sehr oft von den jungen Bewohner*innen zu Fuß zurückgelegt.

Die Einrichtung wurde Anfang August 2016 eröffnet und hatte zuerst ca. 60 Menschen aufgenommen. Diese Zahl ist auf 90 angestiegen und aktuell sind 72 junge Migrant*innen dort untergebracht. Unter den Bewohner*innen sind viele, die schon im August angekommen waren aber erst jetzt einen Vormund bekommen haben. Wie erinnern daran, dass die Erstaufnahmezentren die Minderjährigen nach deren Ankunft nur für höchstens 60 Tage aufnehmen dürfen (diese Zeit ist sogar auf 30 Tage mit dem neulich gebilligten Zampa-Gesetz begrenzt worden), um sie dann auf weitere Aufnahmezentren zu verteilen.

Die Zuteilung der ersten Tutor*innen ist erst im Februar erfolgt - gute sechs Monate nach der Eröffnung des Zentrums - und hat Spannungen unter den Bewohner*innen verursacht, weil sie die Gründe für die Langsamkeit dieses bürokratischen Prozederes nicht verstanden und sich über die fehlende Kommunikation seitens der Leitung des Zentrums beschwert haben. Daraufhin hat die Genossenschaft, mit dem Ziel die Prozedur zu beschleunigen, dem Gerichtsamt vorgeschlagen, sowohl den Direktor der Einrichtung als auch den Sozialarbeiter als Vormund bestellen zu dürfen. Diese ist zwar eine weitverbreitete Praxis, nichtsdestotrotz ist sie sehr umstritten, weil sie einen Interessenkonflikt in sich birgt, der mit dem Schutz der „primären Interessen des Minderjährigen“ kollidiert. Nach Aussage des Sozialarbeiters hat das Jugendgericht hiermit die Prozedur beschleunigt, sodass die Nennung des Vormundes für die Bewohner*innen, die zwischen März und April angekommen sind, voraussichtlich bis Ende Juni erfolgen wird (jedoch mit großer Verspätung in Hinblick auf die Rechtsvorschriften).

Außerdem sind die meisten Minderjährigen, die dort untergebracht sind, durchschnittlich 17 Jahre alt. Das hat oft die Verlegung der gerade volljährig gewordenen Migrant*innen in andere Einrichtungen als Folge, ohne dass sie ihr Verfahren, um das Bleiberecht zu erhalten, beendet oder teilweise sogar erst angefangen haben. Ferner ist es in der Provinz Caltanissetta dazu gekommen, dass einige Neu-Volljährigen in das CARA* nach Pian del Lago verlegt wurden, ein sicherlich nicht geeignetes Zentrum für einen Mensch, der gerade volljährig geworden ist und der schon das Integrationsverfahren in dem Erstaufnahmezentrum begonnen hatte. Diese Praxis erinnert uns an die, die wir schon in Messina und Catania beobachtet haben, wo Neu-Volljährige in die ehemalige Kaserne Bisconte oder ins CARA* nach Mineo gebracht wurden, wo ihr Integrationsprozess definitiv zum Stillstehen kommt.

Die schulische Integration in Butera, die sich auf die Schulen und die Aufnahmezentren von Mazzaroino stützt, geht auch sehr schleppend voran: Nur einige der Bewohner*innen des Nespolo besuchen die Schulen, weil die verschiedenen Zentren der Umgebung mit der Anzahl an schulpflichtigen Migrant*innen überfordert sind. Innerhalb des Zentrums gibt es nur ein Alphabetisierungskurs, der jeden Tag, außer am Wochenende, stattfindet, der aber offensichtlich nicht genügt, um den Bedarf an Integration der vielen dort untergebrachten minderjährigen Migrant*innen entsprechend zu decken.

Darüberhinaus fehlt komplett die Interaktion zwischen der Genossenschaft und dem Umland, die den jungen Migrant*innen Anreize von Außen bringen würde. Die einzige Zerstreuung, mit der die dort lebenden Minderjährigen ihre Freizeit füllen können, ist das Fußballspielen auf dem zur Einrichtung zugehörigen Feld.


Die Rechtsberatung im Zentrum übernimmt ein zuständiger Mitarbeiter, der je nach Bedarf gerufen wird und der mit der Hilfe der drei dort arbeitenden kulturellen Mediator*innen agiert. Den Minderjährigen wird ein Infoblatt auf Italienisch mit allen Informationen bezüglich ihrer Rechte ausgehändigt, das sie unterschreiben müssen. Viele haben uns jedoch berichtet, dass sie nicht völlig verstanden haben, was darauf stand.

Eine Praxis, die hier genauso wie in anderen Zentren, Unruhe unter den Bewohner*innen verursacht, ist die des Einbehaltens der Papiere seitens der Genossenschaft: Laut dem Sozialarbeiter wird dies vom Immigrationsbüro in Caltanissetta verlangt. Diese Praxis ist jedoch rechtswidrig und schürt Unsicherheit unter den Minderjährigen, die monatelang auf ihre Dokumente gewartet haben und jetzt, sobald sie sie in der Hand halten, sie schon wieder abgeben müssen und diese Tat als Verletzung ihre Rechte erleben.

Alle diese einzelnen Aspekte können helfen, die Gründe für mehrere dutzend Fälle von Fluchte, die seit der Eröffnung im Nespolo stattgefunden haben, zu verstehen. Die letzte ist die der 15 Minderjährigen aus Somalia, die zu Ostern in Catania angekommen waren, am 18. April nach Butera verlegt wurden und kaum eine Woche später schon das Zentrum auf eigene Faust verlassen hatten.

Die zahlreichen friedlichen Proteste, die im Zentrum stattgefunden haben, müssen in diesen Kontext der Unsicherheit verstanden werden, die im Aufnahmesystem für unbegleitete Minderjährige herrscht. Die jungen Menschen haben ihr Leben während ihrer extrem gefährlichen Reise mehrmals riskiert, haben Libyen und das Mittelmeer durchquert und, als sie sich in Sicherheit glauben, werden sie stattdessen wortwörtlich zwischen verworrenen bürokratischen Hürden und festgefahrenen Strukturen gefangen, die es nicht fertig bringen, die engmaschige bürokratische Decke zu sprengen und die soziale Integration der Minderjährigen zu begünstigen.

Deswegen schienen uns die Worte einiger Mitglieder des Teams des Nespolo unangebracht: Sie sprachen von Minderjährigen, die „in Afrika indoktriniert werden und die wissen, dass sie hier ALLES bekommen werden“, die „sich immerzu beschweren, obwohl sie in einem Hotel wohnen“, als wenn die Beschwerde fast ein kulturelles Merkmal wäre und nicht das Ergebnis des Aufnahmezustandes und der ewigen Warterei. Ihre Sicht der Dinge scheint uns sehr weit von der Realität entfernt und leider sehr nah an den Unwahrheiten bezüglich der Immigration zu liegen, die inzwischen sehr weit verbreitet und überall zu hören sind, die aber nicht von denjenigen, die in diesem Bereich arbeiten, gedacht oder gesagt werden sollten.

Wir glauben, dass jeder Mensch, der sich in dieser Lage befindet, wo er/sie nur passiv warten muss, dessen Zukunft total unsicher ist und die eigenen Rechte nicht komplett verstanden hat, Grund genug hat, sich zu beschweren. Wir verstehen nicht, warum ausgerechnet den Migrant*innen dieses Recht abgesprochen wird. Das Personal in den Zentren und die Genossenschaften, die sie verwalten, sollten immer daran denken, dass die Aufnahme weder ein Zugeständnis noch ein Privileg ist, sondern – obwohl es öfters vergessen wird– ein durch internationale Gesetze und Vereinbarungen festgelegtes Recht.


Nicolas Liuzzi
Borderline Sicilia Onlus


*CARA - Centro di accoglienza per richiedenti asilo - Aufnahmezentrum für Asylsuchende


Aus dem Italienischen von A. Monteggia übersetzt