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Donnerstag, 9. Februar 2017

Schwerste Verletzungen der Rechtsnormen auf Lampedusa

In diesen, aus menschlicher Sicht, so gefühllosen Zeiten, stellen wir uns immer wieder die selbe Frage, wie viel weiter können wir noch gehen? Die eingeschlagene Richtung ist klar, Mauern, Ablehnung und Vernachlässigung. Die Konsequenzen dieser unmenschlichen politischen Entscheidungen bezahlen die Migrant*innen. Entweder werden sie in Libyen zu Schlachtfleisch (der Staat hat die Genfer Konvention nicht unterzeichnet), sie sterben im Meer oder sie werden in Italien ausgenutzt und allein gelassen. Heute, nachdem die Jagd auf Migrant*innen offiziell eröffnet wurde, hat sich ihre Lage noch verschlimmert und die Suchaktionen in den Städten sind bereits angelaufen.
Migrant*innen aus Lampedusa sind in Porto Empedocle angekommen. Ph: Alberto Todaro



Die humanitären Organisationen haben sich gegen das letzte Abkommen zwischen Italien und Libyen ausgesprochen und klar angeklagt, dass es sich dabei um unmenschliche und ineffiziente Verträge handelt, die mit dem Leben von tausenden Personen spielen. Wir haben ebenfalls unsere starken Bedenken bezüglich eines bereits in Kraft getretenen Abkommens geäußert. Im Rahmen des Abkommens wurden einige Migrant*innen bereits von der libyschen Küstenwache aufgespürt und zurück an Land gebracht, um dort erneut vergewaltigt, misshandelt und in vielen Fällen getötet zu werden. Die Berichte verschiedener Organisationen sprechen eine klare Sprache: 90 Prozent der Migrant*innen in Libyen erfahren Folter und unmenschliche Behandlung. Diese Praxis vereint die Schlepper, die Mafia und laut Abkommen auch Regierungen, ganz besonders unsere.

All das wird den Strom nicht stoppen können, sondern die Gewalt weiter steigern. Diese wird noch grausamer werden und die Zahl der Toten in die Höhe treiben, die nicht mehr ermittelbar sein wird. Die Schlepper sind für diese Verträge dankbar. Damit wird ihnen der Schlüssel des Schicksals dieser Männer, Frauen und Kinder in die Hand gedrückt, die ihr Heimatland verlassen mussten, da ein Leben dort unmöglich war.

Trotz der vielen Rettungseinsätze sind am letzten Wochenende viele Personen vom Meer verschluckt worden. Die Dynamik ist klar, nach den Abkommen setzen die Schlepper Boote ein, die in noch schlechterem Zustand sind. Überladen werden sie auf das Meer hinaus geschickt, obwohl es der Seegang nicht zulässt. Während in diesen Tagen 1.600 Menschen gerettet und nach Italien gebracht wurden, sind vielleicht ebensoviele gestorben. Die Rettungsschiffe können sich vielen Schlauchbooten wegen der Witterungsbedingungen nicht nähern und die Menschen sterben. Es erreichen uns etliche Anrufe von Verwandten. Sie berichten von Telefonanrufen ihrer Kinder, Männer oder Schwestern zum Zeitpunkt derer Abfahrt in Libyen. Die Nachricht über ihre Ankunft bleibt aus. Von diesen Personen werden wir nie etwas erfahren. Es bleibt lediglich die Angst und Verzweiflung der Angehörigen, aber darüber wird uns nichts erzählt: die Toten geben keine Nachrichtenmeldung.

Momentan befinden sich im Hotspot Contrada Imbriacola rund 1.000 Menschen. Sie schlafen ohne Matratzen auf dem Boden und es ist schwierig genügend Decken und Grundgüter bereit zu stellen. Jedes Jahr zeigen sich die selben Probleme: Die Personen kommen auf Lampedusa an, die Fähren laufen nicht aus und das Zentrum verstopft. Es ist dermaßen überfüllt, dass schlechtes Benehmen und Gewalt an der Tagesordnung stehen. Nur weil die Regierung keinen seriösen und unverzüglichen Einsatz planen will, kann es sich ein ziviler Staat wie Italien nicht leisten Menschen auf dem Boden schlafen zu lassen, in einem Flur oder unter einem Vordach. Das ist unmenschlich. Es braucht den Notstand, denn er nützt dem Business, das auch vor Menschenleben nicht halt macht.

Innerhalb von drei Tagen sind auf Lampedusa rund 1.000 Personen angekommen (440 am Freitag, 50 am Samstag, 441 am Montag. 29 Menschen sind bereits seit längerem im Hotspot). Unter den Neuankünften sind Kinder, Frauen und Männer. Sie leben vermischt untereinander in einer überfüllten sowie nicht funktionalen Einrichtung, erhalten keine Kleidung und schlafen ohne Decken auf dem Boden. Gestern wurden 150 Personen mit der Fähre nach Villa Sikania gebracht, ebenfalls bereits überfüllt. Bis heute bleiben, trotz größter Schwierigkeiten, rund 800 Personen auf Lampedusa. Wir hoffen, dass auch sie bald verlegt werden (sofern die Witterungsbedingungen den Behörden entgegen kommen) und nicht mehr auf dem schmutzigen Boden übernachten müssen. Bereits in Libyen und während der unendlichen Odyssee auf dem Schiff, mussten sie auf dem Boden schlafen.



Im Laufe dieses beängstigenden Wochenendes sind andernorts zahlreiche weitere Personen angekommen. Sie waren der selben Behandlung sowie den selben großen Schwierigkeiten der Erstaufnahme ausgesetzt. Vielleicht rücken wir durch das Abkommen mit Libyen näher an die libyschen Standards.

In diesem Kontext haben die Polizeipräsidien freie Hand und können Menschen einfach abschieben. Die Zahl der Marokkaner*innen, die auf der Straße leben, ist hoch. Die freiwilligen Vereinigungen schaffen es nicht mehr die Einrichtungen durch warme Speisen, ein Stück Brot, Duschmöglichkeiten und einen Schlafplatz zu unterstützen. Diese Personen, unter ihnen auch Frauen, werden auf der Straße gelassen. In den letzten zehn Tagen sind mehr als 650 Marokkaner*innen auf Sizilien angekommen. In unserem System zählen sie nichts, aber sie werden die Zahl der Unsichtbaren anheben. Die Übeltäter*innen haben dank diesem Staat ein leichtes Spiel.

Nach dem Rundschreiben bezüglich des Auffindens illegal hier lebender Nigerianer*innen, bekamen die Polizeipräsidien noch mehr Macht: In der letzten Woche wurden Senegales*innen und Personen aus der Elfenbeinküste auf die Straße gesetzt, die seit langem im Identifikations- und Abschiebezentrum (CIE) von Caltanissetta eingeschlossen waren. Sie sollten für die nigerianischen Familien Platz machen. So kamen 25 von ihnen, die vor kurzem auf Lampedusa angekommen waren, direkt in das CIE von Pian del Lago. Dabei sollten die kleinen Boote die es immer wieder an die sizilianische Küste schaffen nicht vergessen werden. Besonders betroffen sind die Provinzen Trapani und Agrigento. An ihren Stränden gehen wiederholt zehn bis 15 Personen von Bord und machen sich direkt auf den Weg in das Polizeipräsidium zur Identifizierung. In der vergangenen Woche waren es Tunesier*innen, die dann bei Sciacca aufgegriffen wurden. Für diese Menschen, sowie für andere, die bei der Überfahrt über das Meer in einem kleinen Boot aus morschem Holz den Tod riskiert haben, ist die letzte Etappe ihrer Reise jene zum Flughafen Palermo, Falcone Borsellino. Dann werden sie zurück nach Tunesien geschickt, wo auf die Glücklichsten ein Schicksal aus Vernachlässigung und Frustration wartet. Kollektive Rückführungen sind mittlerweile gängige Praxis und das nicht nur für Tunesier*innen, sondern laut Rundschreiben auch für Nigerianer*innen.

Die Menschenrechte sind mittlerweile Abfallpapier, ihre Werte sind nur eine Illusion und ihre Verletzungen sind alltäglich. Ihre einzige Regelung ist es, die Mächtigen zufriedenzustellen, die mit dem Leben jener Menschen spielen, die weiterhin unter den Grausamkeiten eines widerlichen Systems leiden.

Alberto Biondo
Borderline Sicilia

Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner