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Freitag, 13. Januar 2017

Von den Unsichtbaren und Ausgenutzten

Zwei Monate ist es nun her, dass wir zum ersten Mal Campobello di Mazara in der Region Trapani in Sizilien besucht haben. Wir überprüften damals den Zustand des Camps in der ehemaligen Ölmühle und der dort untergebrachten Migrant*innen, die geblieben sind um Arbeit zu suchen. Uns haben zwei Afrikaner*innen kontaktiert, die uns mitteilten, dass sie vollkommen vernachlässigt werden durch die blinde Politik, durch die Gemeinde, die nicht nicht auf ihre Hilferufe hört, und durch die Ausbeutung, an der die Besitzer*innen von Obstbaumplantagen großen Gefallen finden, die mithilfe der Migrant*innen den Plantagen zu ihrer Wirtschaftlichkeit verhelfen.

Die ehemalige Ölmühle, die aus den Händen der Mafia beschlagnahmt worden ist, Campobello di Mazara - Ph. Alberto Biondo

Heute leben ca. 80 Menschen in Campobello, allesamt afrikanischer Herkunft. Ihre Behausungen haben sie sich selbst gebaut, mitten auf den Feldern, zwischen verlassenen Landhäusern ohne Türen und Hütten aus Holz und Plastikplanen bestehend. Es gibt weder Licht noch fließend Wasser oder sanitäre Anlagen. Das Gebiet nennt sich „Weißes Gras“ und befindet sich weit außerhalb des Dorfkerns, weit genug weg, um aus dem Blickfeld von Dorfbewohner*innen zu verschwinden, die Migrant*innen als Zumutung empfinden. Dass vielmehr die Lebensumstände dieser Menschen eine Zumutung sind, will hier niemand begreifen.

Die Matratzen liegen auf dem Boden, nur eine Plastikplane trennt sie von der Erde, um zu vermeiden, dass sie sich bei Regen vollsaugen. Das Feuer in der Mitte der Behausung ist die einzige Wärmequelle. Hier kocht man in veralteten Töpfen, die schwer zu reinigen sind. Es gibt keinerlei medizinische Betreuung, und da einige keine Papier haben, herrscht Angst und es wird selten erwogen, den Notarzt zu rufen.


Viele Tage lang haben sie schlicht gehungert. Nicht alle der 80 Bewohner*innen sind zur Mandarinenernte gegangen. Das ist der Grund dafür, dass sie auf dem Land von Campobello verweilen: um bei der Ernte auszuhelfen. Nur dann erscheinen sie als „nützlich“, nur dann erinnert sich die Dorfgemeinschaft an sie. Für die restliche Zeit ihres Aufenthalts in der Gegend hingegen werden sie sich selbst überlassen.


Wir stellen enttäuscht fest, dass diese Unsichtbaren von einem
 System geschaffen werden, das die Ausbeutung regelrecht begünstigt. Wir, die Italiener, können die Anwesenheit von Geflüchteten nur unter diesem Blickwinkel hinnehmen, nämlich in der stillen Annahme, dass die Migrant*innen es auf sich nehmen, sich von Großgrundstückseigentümern oder Vorarbeitern oder von jedem, der es will und einen Nutzen daraus zieht, ausnutzen zu lassen. In dieser brutalen Lage werden Geflüchtete von den Institutionen zurückgelassen, was nicht weiter verwundert oder empört. Aber sie werden auch zurückgelassen von der Presse, die nicht über sie schreibt, von den örtlichen Vereinen und den städtischen Kirchen. 


„Wir sind völlig auf uns allein gestellt, nachdem die Olivenernte beendet ist. Jetzt warten wir auf die Mandarinenernte, die aber noch nicht begonnen hat und uns mit vielen Problemen allein lässt. Wir frieren in diesen Tagen, uns geht es sehr schlecht,“ sagt uns ein junger Mann aus dem Senegal.

Wir haben ihnen Decken, Jacken und Medikamente gebracht. Auch wenn die Jungen sehr dankbar sind, haben wir den Ort mit einem hilflosen Gefühl hinterlassen. Solche Dynamiken finden sich zu Hauf in Italien. Für die Menschen, die gezwungen sind, dort zu leben, ist die Unbekümmertheit der Leute das schwerste Los.


“Wir sind zwar keine Gespenster, aber es ist so, als wären wir welche. Keiner vermietet uns Wohnungen oder auch nur Zimmer, weil sie Angst vor uns haben. Manche von uns können sich eine Wohnung leisten und möchten gerne dafür bezahlen, aber sie wollen nichts mit uns zu tun haben. Sie bevorzugen es, uns bei der Kälte in diesem Ghetto zu lassen, bis wir als Erntehelfer abgeholt werden, ohne bei den Bedingungen mitreden zu können." Natürlich, wenn man die Verletzlichkeit und Unsichtbarkeit der Migrant*innen betrachtet, für die das System verantwortlich ist, ist es nur logisch, dass die Migrant*innen die Löhne drücken, um einen Euro in der Tasche zu haben oder um nicht zu verhungern.

Die Ausbeutung beginnt im Segregieren und in der Gleichgültigkeit. Die Politik beabsichtigt diese Isolierung, um die Hoffnungen und Träume vieler junger Menschen zu zerschlagen, die auf sehr anständige Art und Weise ihre Wut über die psychische Gewalt, die sie erlitten haben, sichtbar zu machen, ihre Wut auf die menschenunwürdigen Bedingungen, unter denen sie gezwungen sind zu leben. In Campobello sind die Verstöße gegen Menschenrechte an der Tagesordnung.

Wir möchten erneut wissen, warum kein Stadtrat sich für diese Zustände interessiert und sie ändert, warum niemand vor Ort ist, um diese Zustände zu erkennen. Wie können die Migrant*innen seit Jahren in Campobello auf diese Weise leben und missbraucht werden? Wir sind ratlos über diese Lage. Wir fragen uns und die verantwortlichen Institutionen warum die alte Ölmühle, die aus den Händen der Mafia beschlagnahmt wurde und nur für zwei Monate im Jahr genutzt wird (in der Zeit der Olivenernte, die viel Geld in die Region bringt) und ansonsten leer steht, nicht instandgehalten, um diesen Menschen ein vernünftiges Dach über ihren Köpfen zu geben. Sie müsste dazu ausgerüstet werden, um all jene unterzubringen, ohne die die Olivenernte nicht zu bewerkstelligen wäre.



Doch der Bürgermeister antwortet nicht, die Kreisverwaltung antwortet nicht, die Kirche tut so, als wisse sie nichts. Die ortsansässigen Vereine ignorieren das Problem und die Gewerkschaften ergötzen sich nur an ihrer Macht. Das ist eine Schande für Campobello di Mazara.

„Ich wollte so ein Leben nicht. Mir geht es sehr schlecht. Die Kälte dringt in mich ein, sodass ich nicht schlafen kann. Seit Jahren schon lebe ich in Italien und jemand schlägt seinen Nutzen aus mir." R. äußert sehr genau, was wir nunmehr begriffen haben: Es ist das Geschäft, das die Geflüchteten von dem Augenblick an, in dem sie ihr Herkunftsland verlassen haben, bis zur innerlichen Aufkündigung erdulden müssen.

„Wenn sie hier fertig mit uns sind, sind wir gezwungen, nach Kampanien zu ziehen, wo die nächste Ernte auf uns wartet. Das war nicht das Leben, das ich mir als Kind ausgemalt habe. Und trotzdem ist es das Leben, das wir wegen euch gezwungen sind zu führen.“

Alberto Biondo

Borderline Sicilia

Übersetzung aus dem Italienischen von Alma Maggiore