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Dienstag, 24. Januar 2017

Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Sohn getötet wurde

Viele, zu viele solcher Telefongespräche während des letzten Wochenendes! Zu viele Meldungen von Müttern und Vätern, Schwestern und Brüdern, die auf Nachrichten warten von ihren Angehörigen, die Opfer unseres Abwehrkampfes gegen die Migrant*innen. Ein Kampf, der jeden Tag Opfer fordert: während des Wochenendes vom 13. – 15. Januar 2017 starben auf Grund der europäischen Migrationspolitik mehr als 200 Personen.

Auf Lampedusa werden vier Leichname, in Messina zwei und in Trapani ebenfalls vier Tote an Land gebracht.

Acht namenlose, an Land gebrachte Leichname. Für die anderen mehr als 190 Toten besteht keine Hoffnung, dass sie jemals gefunden werden, wenn das Meer sie nicht an irgendeinen Strand spült. Aber auch dann wäre es nicht möglich, ihnen Namen und Gesichter zu geben. So nimmt das Heer der Namenlosen, der Desaparecidos des Mittelmeers exponentiell zu – genau wie die Zahl der Mütter, die keinen Frieden finden, in der Ungewissheit über das Schicksal ihrer Kinder. Es sind Mütter, die vielleicht vor der Überfahrt nach Europa noch einen Anruf aus Libyen erhalten haben und nie die erlösende Nachricht vom Erreichen der ersehnten Küsten Europas.

Das Schiff Siem Pilot unter norwegischer Flagge, Teil des Frontex-Dispositivs im Mittelmeer, hat vier Leichname und vier Überlebende nach Trapani gebracht. Diese berichteten, dass wenige Stunden nach dem Ablegen das Boot sich langsam mit Wasser gefüllt habe und zu sinken begann. Alle der 200 Passagiere seien im Meer verschwunden, nur wenige hatten die Kraft, um ihr Leben zu kämpfen. Alle haben ihr Leben verloren – Stunde um Stunde haben die vier Überlebenden zusehen müssen, wie ihre Ehefrauen, Schwestern, Brüder, Cousins und Freund*innen ertranken. Sie waren elf Stunden im eiskalten Wasser bevor die Siem Pilot sie fand. Sie haben den Kampf ums Leben durchgestanden. Aber über diese Berichte schweigt die Presse - ein ohrenbetäubendes Schweigen in Komplizenschaft mit diesem Todessystem.

Die Überlebenden kommen aus Eritrea und Äthiopien. Die Eritreer*innen hätten ein Recht auf Relocation – auf die Umsiedelung innerhalb Europas. Aber die Präfektur schickt sie in die CAS, die außerordentlichen Aufnahmezentren. Das System ist außer Kontrolle geraten. Es ist lediglich daran, neue CIE* zu eröffnen. Auch wenn zurzeit weniger Menschen ankommen als im Sommer, bleiben die Hubs überbelegt – sie sind zu eigentlichen "Behältern" für Menschen geworden. Im Fall der Überlebenden von Trapani, die schwere Traumata erlebt haben, ist ihre Unterbringung in einem CAS mehr als fragwürdig und bar jeder Menschlichkeit.

Die Präfekturen unterstehen dem Innenministerium, das keine Leitlinien irgendwelcher Art vorgibt, was die Behandlung der besonders Schutzbedürftigen betrifft. Oft werden Frauen und Kinder in überfüllten außerordentlichen Aufnahmezentren untergebracht, weil keine Transfers organisiert werden. Solche Zustände finden sich in Poggioreale in der Provinz Trapani, in Boccadifalco und Giardinello in der Provinz Palermos. Die dortigen Präfekturen verlangen seit langem Transfers, aber aus Rom kommt keine Antwort. In Poggioreale kann der Betreiber die dort anwesenden Frauen nicht mehr betreuen, nachdem alle Angestellten gekündigt haben und nur noch zwei nicht ausgebildete Personen zurückgeblieben sind. Das ist schädlich für die Frauen und hatte zur Folge, dass ihre Aufnahme widerrufen wurde und sie sich aus den Einrichtungen entfernten. Oft ist ihre einzige Möglichkeit auf der Straße zu leben, wo sie weiter ausgebeutet werden.

Auch für die unbegleiteten Minderjährigen Geflüchteten ist es ähnlich. Sie werden lediglich in den laufend neu eröffneten Zentren untergebracht. Die Region Sizilien eröffnet weiterhin Einrichtungen auf Grund der Notfalllogik: oft wissen nicht einmal die Gemeinden selber wie viele solcher außerordentlichen Aufnahmeeinrichtungen es auf ihrem Gemeindegebiet gibt. Sicher ist, dass die minderjährigen Geflüchteten viel zu lange in einer für sie ungeeigneten Umgebung platziert werden.

Was häufig mit ihnen geschieht?

Sie erreichen ihr 18. Altersjahr in den Einrichtungen für Minderjährige und werden entlassen, ohne dass ein Integrationsprozess in die Wege geleitet wurde. Oft erscheint ihnen die Flucht von dort als einzige Möglichkeit, diesem Mangel an Perspektive zu entkommen.

Heute befinden sich zum Beispiel etwa 20% der volljährig Gewordenen weiterhin in Einrichtungen für Minderjährige. Auch dazu erhalten die Präfekturen keine Signale des Ministeriums, das die nötigen Transfers möglich machen würde. Die außergewöhnlichen Aufnahmezentren sind alle belegt und die entstehenden Konflikte werden akut, aufgrund der verschiedenen Bedürfnisse, zwischen den jungen Erwachsenen, den Jugendlichen und den Betreibern.

2017 wird die Zahl der Volljährigen eine Höchstzahl erreichen. Dem muss bereits jetzt durch eine Planung Rechnung getragen - und entsprechende Lösungen müssen vorbereitet werden. Sonst werden wir zusehen, wie eine Bombe platzt in diesen Notfallszenarien – die Leidtragenden werden die Jugendlichen und jene sein, die für sie verantwortlich sind.

In solche Lebensumstände verstrickt, haben Viele große psychologische Probleme, für die sich niemand interessiert. Die zu kleine Zahl an Plätzen für Schutzbedürftige im Aufnahmesystem für Geflüchtete führen dazu, dass diese in den außerordentlichen Aufnahmezentren verbleiben. Dort leben sie in gemischten Verhältnissen zwischen den Männern, Frauen, jungen Erwachsenen und Schutzbedürftigen. Es fehlt an den geringsten Anforderungen zu deren Schutz. Zudem sind in einigen Einrichtungen anche Zeug*innen anwesend, die in den Prozessen gegen die verhafteten mutmaßlichen Schlepper aussagen.

Dieses System hat schon seit langem versagt – es tötet weiter: zuerst in Libyen, dann während der Überfahrt und später in unseren Städten. Uns bleibt die Wut und die Aufgabe mit den Hinterbliebenen der Toten Verbindung aufzunehmen. Ihre Trauer und Tränen, wenn auch nur am Telefon gehört, können wir nie vergessen. Sie belasten uns unsäglich, denn wir finden keine Worte mehr, um diese Menschen zu trösten. So bleibt uns die Wut über das, was wir diesen Familien, diesen Jugendlichen, diesen Kindern in dieser nicht mehr menschlichen Welt antun. Und so sprechen wir mit Mühe ins Telefon: "Es tut mir leid, aber ihr Sohn wurde getötet."

Alberto Biondo
Borderline Sicilia


*CIE (centro d'identificazione ed espulsione) – Abschiebehaftzentren

Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne