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Montag, 5. Dezember 2016

Tote, Zurückgewiesene und besonders Schutzbedürftige im Hotspot festgehalten. Die täglichen Tragödien derer, die nach Europa fliehen

Durchschnittlich 4 Ankünfte in der Woche allein an den sizilianischen Häfen, Dutzende von Todesfällen und eine unbekannte Anzahl an Vermissten: Wir sind erst am Anfang des Monats Dezember, doch aus Libyen reisen weiterhin Menschen ab, die immer weniger sicher sein können, Europa lebendig zu erreichen. Am Bord des Schiffes der Militärmarine San Giorgio ist die erste Phase der Ausbildung der libyschen Marine und der Küstenwache zu Ende gegangen, die von den Europäischen Streitkräften im Rahmen der Operation SOPHIA von EUNAVFORMED durchgeführt wurde. Dementgegen werden die humanitären Einsätze verschiedener Schiffe, unter ihnen die Dignity und die Bourbon Argos von Ärzten ohne Grenzen, die Vos Hestia von Save the Children und die Phoenix von MOAS (Migrant Offshore Aid Station), in Kürze zu Ende gehen und erst in einigen Monaten werden sie ihre Rettungsmissionen wieder aufnehmen.

Die Möglichkeiten der wirksamen und schnellen Rettungen lassen nach und gleichzeitig steigt die Wahrscheinlichkeit einer immer engmaschigeren Militärkontrolle in der Straße von Sizilien und das unter meteorologisch zunehmend schlimmeren Bedingungen. Es ist ziemlich eindeutig wozu das Ganze führt: Mehr Schiffsbrüche und mehr Opfer unter den Migrant*innen und weitere rhetorische Reden, in denen der große Einsatz gegen den Menschenhandel angepriesen wird, aber parallel drängt die militarisierte Europäische Festung die Geflüchteten in die Netze der Schleuser.

Immer öfters kommen zusammen mit den Geretteten Leichnamen an und die Anzahl der vermuteten Vermissten geht an die Hundert: Heute sind in Augusta 438 Personen und 14 Leichname angekommen. Eine weitere Ankunft hat heute in Pozzallo mit 280 Personen stattgefunden.

Für diejenigen, die noch lebendig ankommen, fängt das „Hotspot Verfahren“ mit all seinen unmenschlichen Facetten an, und die Politik des Selektierens und des Zurückweisens, die immer weniger mit Aufnahme zu tun hat, wird implementiert. Vor circa einer Woche wurden 150 marokkanische Migrant*innen mit einer Anordnung zeitversetzter Zurückweisungen aus dem Hotspot in Pozzallo geworfen: Hier wird eine schlimme Tradition fortgesetzt, nämlich die der fotokopierten Anordnungen, die an die kollektiven Rückführungen erinnern, für die Italien schon mal verurteilt wurde. Etliche wurden wortwörtlich auf die Straße geworfen, in Gruppen bis zu fünfzig und trotz des starken Regens, in einer Stadt wie Pozzallo, wo es keine Einrichtungen gibt, die Schutz bieten könnten, oder trockene Kleidungen und eine Mahlzeit an die ausgeben könnten, die kein Dach über dem Kopf haben. Von hier aus ist es außerdem sehr schwierig, eine größere Stadt zu erreichen und dieses Unterfangen wird praktisch unmöglich, wenn sich der Tag dem Ende zuneigt und du kein Geld in der Tasche hast. Wir haben diese Menschen einige Stunden begleitet, wir haben ihren Geschichten zugehört und den Erzählungen der Reisen, die sie unternommen haben, um bis hierhin zu kommen. Viele von ihnen sind sichtbar jung und doch reden sie schon von Dingen, die „sie lieber vergessen würden“: Alle haben das Bedürfnis, einen Raum für sich zu finden, wo ihnen als Mensch begegnet wird und aus dem sie nicht als „illegal“ wieder weggescheut werden, wo sie als Person und nicht als Zahl ohne Vergangenheit und ohne jegliche Rechte, nicht mal Grundrechte, wahrgenommen werden. Wir wissen ganz genau, dass als Folge solcher Zurückweisungen die libyschen Schleuser durch andere in Europa agierenden Schleuser ersetzt werden und die Migrant*innen in die Schwarzarbeit gedrängt werden. Soviel zu dem Kampf gegen den Menschenhandel und gegen die illegale Anwerbung unterbezahlter Landarbeiter!

Leider sind es nur nicht nur die Nordafrikaner*innen, die systematisch von unserem System abgewiesen werden. In der Tat wurden zeitgleich etwa zwanzig aus der Elfenbeinküste stammende Migrant*innen direkt vom Hafen Augusta zum CIE* in Pian del Lago bei Caltanissetta geschickt, während andere ihrer Landsleute, die in Catania angekommen waren, faktisch auf der Straße in der Stadt mit einer Anordnung der zeitversetzten Zurückweisung umhergingen. Diese sind gravierende und besorgniserregende Ereignisse, die die Anwendung von rechtswidrigen Verfahren aufzeigen, die Verletzung jeglicher internationaler Vereinbarungen und die Missachtung des Asylrechts und des Grundgesetzbuches belegen. Der italienische Staat garantiert nicht den individuellen Schutz und verhöhnt systematisch und kontinuierlich das Schutzrecht zum Nachteil derer, die nicht Mal im Stande sind, sich zu wehren. Der Staat verschleiert sein Handeln, so dass die Zivilgesellschaft und die Bürger*innen im Dunkeln gelassen werden. Unter den zwanzig Migrant*innen aus der Elfenbeinküste, die wir in Catania getroffen haben, haben wenigstens sieben uns gesagt, dass sie minderjährig sind, die „irrtümlicherweise“ als Volljährige registriert wurden. Einige von ihnen waren offenkundig sehr jung: Auch für sie ist somit die Möglichkeit, sich eine würdige Zukunft in Italien und in Europa aufzubauen, von Beginn an verhindert und gefährdet.

Die Ankünfte fahren in einem regelmäßigen Tempo fort: Die Berichterstattungen jedoch interessieren sich immer weniger für die Lage der Migrant*’innen, im Gegenzug fehlt es nie an Nachrichten über Festnahmen mutmaßlicher Schleuser, mitunter sogar von minderjährigen Schleusern. Wie die Ermittlungen geführt werden, welche Selektionskriterien benutzt werden, auf welche Art und Weise die Zeug*innen „überzeugt“ werden und welche gesetzlichen Bestimmungen für diese Operationen gelten: All das muss noch gründlich geklärt werden.

Italien stellt Europa gegenüber seine Effizienz dar, in dem Zahlen, Namen und Gesichter mutmaßlicher Schleuser der Öffentlichkeit präsentiert werden, aber der italienischen Staat scheint sich absolut nicht für den Schutz der Rechte der angekommenen Migrant*innen zu interessieren. In der letzen Zeit sind einige Minderjährige vom Hotspot Pozzallo zu verschiedenen CAS* der Provinz verlegt worden und sie alle hatten Papiere dabei, die sie mit falschen Geburtsdaten, teilweise mit der Hand korrigiert, als volljährig auswiesen. Es sind sehr schwerwiegende Rechtsverletzungen, die oft erst bei der Anhörung der Kommission richtiggestellt werden können und deswegen werden Minderjährige gezwungen, längere Zeit in Zentren für Erwachsenen zu verbringen, ohne die ihnen zustehenden Betreuung mit all den dazugehörenden Komplikationen. Wir wissen, dass noch Hunderte von Minderjährige wochenlang im Hotspot Pozzallo oder am Hafen Augusta verbleiben müssen und wir haben sogar von besonders Schutzbedürftigen gehört, die auch in diesen Einrichtungen festgehalten werden. Der letzte uns bekannte Fall ist der der nigerianischen Frau, die an einer schweren Psychose litt und am 14. Oktober in Pozzallo als Überlebende eines der vielen Schiffsbrüche der letzten Monate ankam. Die junge Frau wurde von verschiedenen Organisationen, sowohl am Pier als auch im Zentrum, als besonders Schutzbedürftige eingestuft und musste jedoch über einen Monat im Hotspot ohne Rückzugsmöglichkeiten und in einer überfüllten Einrichtung verbringen: Die einzige Erklärung war die oft benutzte Rechtfertigung. Es fehlte ein geeigneter Platz! Eine Person, die nicht im Stande ist, sich selbst zu versorgen, die einen ruhigen Platz und individuelle, sachkundige Betreuung braucht, wird in einer Einrichtung sich selbst überlassen, die sie per Gesetz vermeiden sollte. Wir hören von dem Fall, als die Lage der Frau eine andere, nicht weniger beunruhigende Richtung einschlägt: Am 11. November beschließt die Präfektur Ragusa, die Frau in eines der vielen CAS* der Provinz zu verlegen und somit kommt sie wieder ihren Pflichten nicht nach. Der Schutz der besonders Schutzbedürftigen sieht vor, dass solche Personen in nur für sie geeigneten Einrichtungen untergebracht werden. Innerhalb des neuen Zentrums wird die junge Frau von einem ehrenamtlichen Psychiater untersucht, dem sie bereits im Hotspot begegnet war. Er bietet ihr ein erstes unterstützendes Gespräch, das die zuvor gestellte wenig beruhigende Diagnose bestätigt, sowie einen Therapieansatz an. Zurzeit wird sie von einem Team von MEDU (Medici per i Diritti Umani – Ärzte für Menschenrechte) betreut, ihre Verlegung in eine Facheinrichtung ist aber bis dato noch nicht erfolgt.

Die Schließung und Militarisierung der Grenzen der Festung Europa zwingt die Ankommenden in eine Lage, in der sie höchst erpressbar sind und hindert sehr stark jede reelle Chance der Selbstbestimmung und der Einforderung der eigenen Grundrechte. Die Zukunft der Migrant*innen, sowohl der Minderjährigen als auch der besonders Schutzbedürftigen, wird nicht durch Schutz und Absicherung gekennzeichnet, sondern bleibt den politischen und ökonomischen Entscheidungen ausgeliefert, die von denen getroffen werden, die auf dieser Seite des Meeres ein ausgesprochenes gewalttätiges System am Leben halten.

Lucia Borghi
Borderline Sicilia

*CIE - Centro di Identificazione ed Espulsione – Abschiebungshaft
*CAS - Centro di accoglienza straordinaria - außerordentliches Aufnahmezentrum

Aus dem Italienischen von A. Monteggia übersetzt