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Montag, 5. September 2016

Neue Landungsverfahrensweisen oder das komplette Durcheinander? Die „verzögerter Landung“ in Messina ist kein Einzelfall

In aleis strenua – in pugna invicta”, „Entschlossen in der Risikobereitschaft, unbesiegbar in den Kämpfen“ Das ist das Motto der mächtigen Virginio Fasan (F591), einer Fregatte der Militärmarine, deren unüblicher und verlängerter Aufenthalt im Hafen von Messina die Neugier der Passanten geweckt hat und die Zweifel der örtlichen Aktivist*innen nach sich gezogen hat. Diese Bedenken wurden in der Pressemitteilung der PRC* von Messina ausgedrückt. Diese hat wiederum dazu geführt, dass wir gerade noch rechtzeitig angekommen sind, um den letzten Akt der Landung mitzuerleben, die die längste und anstrengendste der letzten Zeit geworden ist. Die letzte Gruppe Migrant*innen, ca. 150 von insgesamt 1159 Personen, durfte erst gegen 21:00 Uhr am Donnerstag, den 1. September, das Schiff verlassen, also mehr als 48 Stunden nachdem die Landungsaktion am späten Nachmittag des Dienstags, den 30. August, angefangen hatte.



Welcher ist der Grund einer solchen unerklärlichen und inakzeptablen Verspätung? War das eine geplante Wahl oder doch eine Zwangsentscheidung? Es gibt viele Vermutungen, aber bis jetzt keine offizielle Erklärung. Aus den Zeugenberichten, die am späten Donnerstagnachmittag gesammelt wurden, lassen sich einige wichtige Schlüsse ziehen. Wir haben den ganzen Nachmittag damit verbracht, die verschiedenen Etappen des langsam beschrittenen Weges zu beobachten, den jede*r einzelne Migrant*in, der/die aus dem Schiff kam.

Die Landungsaktion hat am späten Dienstagnachmittag - A.d.R. am 30. August – angefangen (…), anfänglich schien alles wie gewohnt zu laufen. Nachdem ca. 30 oder 35 Personen aus dem Schiff gekommen waren, haben plötzlich einige Beamten des Gesundheitsministeriums, die am Pier anwesend waren, angeordnet, dass ab sofort nur Frauen und Kinder aussteigen dürfen. Nach ein paar Minuten der Aufregung, sind in der Tat nur noch Frauen und einige Minderjährige ausgestiegen. (…) insgesamt sind ca. 130 Personen, unter ihnen ca. 70 „besonders Schutzbedürftige“, d.h. Frauen und Kinder, ausgestiegen“.


Dienstag, 30. August – Fotoidentifizierung einer ersten Gruppe von Frauen am Pier  

Marta Bellingreri, die schon seit Dienstagabend mit einem Team der BBC das Geschehen verfolgt, hat uns dies berichtet. Während wir versuchen, uns ein Bild der Lage zu machen und zu erfahren, was in den vergangenen Tagen passiert ist, merken wir sofort, dass die internationalen Organisationen, wie IOM, die interationale Organisation für Migration, und der UNHCR gar nicht hier sind. Vermutlich mussten sie sich zwischen den vielen Landungen in den sizilianischen Häfen entscheiden.

Nachfolgend haben wir einen Polizisten nach den Gründen dieser Landungsmodalitäten gefragt und ihm auf die Ähnlichkeiten mit der Landung im Hafen von Palermo von vorigem Tag (und der vorigen Nacht) angesprochen. Seine erste Antwort war: „In Messina gibt es keinen Hotspot“. Nachdem wir uns mit ihm ein wenig unterhalten hatten, haben wir eine zweite und viel wichtigere Tatsache erfahren: „In der Stadt und Umgebung sind alle Zentren total überfüllt. In der Nacht des 30. August wurden, gerade als hier im Hafen das Schiff mit über 1100 Migrant*innen ankam, auf dem Landweg von Trapani ca. 200 weitere Migrant*innen zum Pala Nebiolo gesendet“.

In kompletter Offenheit und ganz ohne Ironie haben wir nochmals auf die Ähnlichkeiten mit dem Fall von Palermo hingewiesen und unsere Besorgnis ausgedrückt: Ist es nicht so, dass mit dieser Praxis sogenannte „schwimmende“ Hotspots geschaffen werden? Ist es nicht so, dass dadurch im Verborgenen die Migrant*innen aufgrund der Nationalität aussortiert werden? Und somit die Rückführung in die Länder, mit denen Wiederaufnahmeabkommen bestehen, beschleunigt werden? Und zum Schluss, auch wenn die organisatorischen und logistischen Schwierigkeiten – in Anbetracht der Anzahl von gleichzeitig ankommenden Migrant*innen in den wichtigen sizilianischen Häfen - offensichtlich sind: ist es vertretbar, dass Menschen, die schon eine sehr anstrengende Reise hinter sich gebracht haben, weitere 48 Stunden auf dem im Hafen liegenden Schiff und dann noch weitere 4 Stunden in den in der Sonne wartenden Bussen festgehalten werden?

Unsere Fragen und Bedenken haben dazu geführt, und das ist im Übrigen völlig verständlich, dass die Antworten in erster Linie auf die Korrektheit und Transparenz der Aktion der Polizei zielen, weil „es hier nichts zu verbergen gibt“. Wir bekommen keinen Kommentar bezüglich des Unbehagens der Migrant*innen, nur ein resigniertes Kopfnicken: deren Gesichter und der Ausdruck ihrer Augen sagen mehr als viele Worte. DeieRückführung betreffend erhalten wir nur eine allgemeine Antwort: „Die werden nur in die Länder Nordafrika erfolgen“
Zum Schluss haben wir noch gezielt nach den Blättern gefragt, die die Migrant*innen in den Händen hielten, während sie in einer Reihe standen. Der Polizist hat geantwortet, dass der Inhalt der Blätter ihm nicht bekannt sei und dass es sich jedoch vermutlich um die sogenannten „fogli notizie“, also kurze Informationsbogen der Polizei handele. Mit der darauffolgenden Frage wollten wir erfahren, ob es möglich sei, dass die in diesen Blättern gemachten Angaben zum Erlass eines verzögerten Rückführungsdekrets laut Art. 10.2 führen könnten? Die Antwort kam schnell und eindeutig: „Absolut nein, die werden nicht mehr gemacht“.

Darüber hinaus bleibt festzuhalten, dass wir aufgrund der Langsamkeit der Landungsoperationen die Möglichkeit hatten, jede Phase genau zu beobachten und auch die, die normalerweise nicht so offenkundig sind, zu verstehen. Zum Beispiel die erste Zwangsetappe: Ein großes, blaues Zelt, in dem, wie wir später erfuhren, die Beamt*innen des Migrationsamts die Erwachsenen und die Minderjährigen trennen. Weil die Migrant*innen eine ziemlich lange Zeit im Zelt verbrachten und das Personal hin und her schwirrte, vermuten wir, dass auch eine Art Vor-Identifizierung dort stattfand. Nachdem sie das Zelt verlassen hatten, durften die Migrant*innen die Toiletten benutzen. Es waren 12 Dixi-Klos am Abend des 30. August aufgestellt worden, so erfuhren wir von Marta Bellingreri, nachdem sich die Besatzung der Fregatte und die Hafenbehörde laut darüber beschwert hatten, dass die Migrant*innen ihre Notdurft direkt im Meer in der Nähe des Schiffes verrichten mussten und dadurch Geruchsbelästigung entstanden war. In der zweiten Etappe wurden die Fotoidentifizierung vorgenommen, direkt unter freiem Himmel und für jeden sichtbar. Ferner waren die Zelte des Roten Kreuzes aufgestellt, wo die Migrant*innen von den Mitarbeiter*innen des Roten Kreuzes und der Misericordie etwas zum Essen bekamen, und wo medizinische Untersuchungen stattfanden. Diejenigen, deren gesundheitlicher Zustand es erforderte, bekamen in zwei weiteren Zelten in der Nähe erste Behandlungen. Im Laufe des Nachmittags musste der Krankenwagen drei Mal intervenieren und in der ersten Nacht waren schon mindestens drei Fälle behandelt worden, einer davon ziemlich dringend, weil es um einen epileptischen Anfall ging.

Neben dem Zelt, in dem die Verteilung von Essen und Wasser stattfand, hielt ein Tankwagen an, so dass die Wartenden sich erfrischen konnten. Die letzte Etappe war inzwischen erreicht und die Migrant*innen reihten sich ein. In zwei Zelten der Präfektur Messina warteten drei Mediator*innen (zwei Frauen und ein Mann) und eine Mitarbeiterin des Zentrums Amal* – wie aus ihrem Oberteil hervorging – unter der Kontrolle und der Mithilfe vermutlich von Polizisten in Zivil auf die Migrant*innen, die mit einigen Papierbögen in den Händen ankamen, deren Inhalt uns nicht bekannt ist. Nach einem kurzen Gespräch – wir haben mehrmals Fragen über die Personalien vernommen – haben die Migrant*innen die Bögen, die sie zuerst hatten, unterschrieben und dem Personal übergeben, die diese Bögen dann auf verschiedene Stapel auf dem Nebentisch verteilten. Zu diesem Zeitpunkt trennten sich dann die Wege der Migrant*innen: Erst später haben wir die Heiterkeit verstanden, mit der ab und zu die Zahlen 1988 oder 2000 zugerufen wurden. Diejenigen, die für Minderjährigen gehalten wurden, sollten sich in ein grünes Zelt begeben, das sich hinter dem mobilen Büro fand; all die anderen sollten in den Bus der Firma Calamunci oder in einige wartende Linienbusse einsteigen. Die Letzteren, also die Erwachsenen, wurden dann zum Pala Nebiolo gebracht, wo dann in einem Raum, der als Büro des Polizeipräsidiums fungierte, die Identifizierungsprozedur zu Ende ging.



Bevor wir den Hafen verließen, haben wir noch die Möglichkeit gehabt, mit
Herrn Zaccone, einem Beamten des Sozialdezernats der Gemeinde Messina zu sprechen. Wir fragten ihn, welches Schicksal für die unbegleiteten Minderjährigen vorgesehen war, die schon mindestens seit 5 Stunden in dem oben erwähnten grünen Zelt warteten, ohne die 48 Stunden, die sie noch auf dem Schiff im Hafen verbracht hatten, zu vergessen. Während wir sprachen, ist die Gesamtzahl der unbegleiteten Minderjährigen von etwa 20 auf 32 gestiegen. „In Messina gibt es keine freie Plätze mehr, alle Zentren sind überfüllt. Wir warten auf Anweisungen seitens der Präfektur. Die Minderjährigen, die in den letzten 2 Tagen angekommen sind, sind in den Zentren um Messina herum untergekommen; 78 in der ehemaligen Kaserne Gasparro, 5 in Giampilieri in dem von der Genossenschaft Santa Maria della Strada geführten Zentrum und 4 in Fondachelli Fantina“. Wir haben die Offenheit des Beamten ausgenutzt und die Schwierigkeiten der Aufnahme und besonders des Schutzes der unbegleiteten Minderjährigen auf dem ganzen Regionalgebiet unterstrichen. Bezüglich Messinas haben wir die Unangemessenheit der ehemaligen Kaserne Gasparro hervorgehoben, sowohl im Hinblick auf die Aufnahme, als auch unter der Berücksichtigung der im letzten Juni erfolgten Umwandlung in ein Zentrum, das ausschließlich für die Unterbringung von unbegleiteten Minderjährigen gedacht ist, dessen rechtlicher Charakter jedoch unbestimmt ist. Herr Zaccone hat ohne Weiteres unsere Bedenken geteilt, allerdings hat er darauf hingewiesen, dass die Kaserne Gasparro nicht in die Zuständigkeit der Gemeinde fällt, sondern in die der Präfektur. Wir konnten das nur bejahen. Wir hatten schon, Mitte August, eine Anfrage an die Präfektur gestellt, um die Erstaufnahmestrukturen in Messina am darauf folgenden Tag besuchen zu dürfen, leider immer noch ohne Antwort.
In der Erwartung, dass der neue Präfekt am 5. September sein Amt antritt und in der Hoffnung, bald eine Antwort zu unserem Gesuch zu erhalten und letztendlich den Zugang zu den Strukturen zu bekommen und dort Klärung für unsere Fragen in Bezug auf diese neue Landungsmodalitäten zu erhalten, verlassen wir ratlos und betrübt den Hafen. Den letzten Gruß, direkt und ohne Zögern, widmen wir einem Jungen, der seit Stunden unter dem Zelt wartet: Wir wünschen ihm „Good Luck“, das wird er sicherlich brauchen!!


Elio Tozzi

Borderline Sicilia

PRC* Partito Rifondazione Comunista (Linke Partei Italiens)
Amal* - Auf Arabisch Hoffnung


Aus dem Italienischen von A. Monteggia übersetzt