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Dienstag, 23. Februar 2016

Migrant*innen, die ersten Monate des Hotspotsystems auf Sizilien. «Die oberflächliche Auswahl, wer nach Europa darf»

Von Meridionews - Andrea Gentile

Der Winter über dem Mittelmeer, das zum Glück nie stürmisch ist, ist mild. Die Männer und Frauen, die auf der Flucht vor Krieg und Armut sind, schiffen sich weiterhin mit der Hoffnung Sizilien zu erreichen, von Lybien Richtung Norden ein. Pozzallo ist, nach Lampedusa, der erste Anlegeplatz. Samstag Morgen wurden 105 Migrant*innen (63 Männer, 28 Frauen und 14 Minderjährige) von dem norwegischen Schiff Siem Pilot aufgenommen und an Land gebracht. In einer Woche erreichten mehr als 500 Migrant*innen den ibleischen Hafen. Sie kommen zu den 89 Bootsflüchtlingen des vorherigen Samstags und den 367 von Mittwoch dazu.

Im Jahr 2015 haben sich in Pozzallo 104 Schiffslandungen mit mehr als 16 Tausend Migrant*innen ereignet; damit ist er der viertgrößte Hafen in Italien in Bezug auf die Anzahl an Personen, der dritte bezüglich der Anzahl an Bootslandungen. Im ersten Monat des Jahres 2016 sind hier, verteilt auf vier Landungen, die sich auf die letzte Woche konzentrieren, 1.207 Geflüchtete angekommen. Wie von den europäischen Richtlinien planmäßig festgelegt, ist Pozzallo ebenso im Januar zu einem der drei aktuell betriebenen Hotspots geworden. Auch für die zuletzt Angekommenen haben sofort die Identifizierungs-Schritte und die ‚erkennungsdienstlichen Maßnahmen‘ gegriffen, die eine der Zielsetzungen des Ansatzes Hotspot darstellen, „den niemand ohne die sachgemäße Identifizierung und Registrierung verlassen darf“, wie der leitende Koordinator von Frontex, Miguel Angelo Nunes Nicolau, erklärt hat. Ein strenger gefasster Kontrollmechanismus, der aber weiterhin Lücken aufweist, wenn man bedenkt, dass unter den Migrant*innen, die im letzten Drittel des Jahres 2015 ankamen, durchschnittlich nur vier von fünf registriert worden sind. Und für diese Nichteinhaltung wurde Italien in den vergangenen Monaten von den europäischen Gremien angeklagt.

Nunes Nicolau hatte dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss über das System der Aufnahme vom 13. Januar erklärt, dass es „eine einzige klare Prozedur geben werde. Die Geflüchteten kommen an einem Punkt X an und werden zu einem Punkt Y gebracht“, um die Identifizierung zu vollenden. Vorgesehen ist außerdem die „zwangsweise Abnahme der Fingerabdrücke“ durch „verschiedene Phasen: eine der Beratung und eine der Proben; sollte die Person nicht kollaborieren, kann sie in ein anderes Zentrum gebracht werden, wo weitere Versuche durchgeführt werden, solange bis das Ziel erreicht ist. Die Anwendung von Gewalt ist natürlich das letzte Hilfsmittel.“ Eine gewaltsame Praxis scheint jedoch im Widerspruch zu den nationalen gesetzlichen Bestimmungen und der Charta der in der Europäischen Union gefassten Grundrechte zu stehen.

Die Verlegung ist bereits gängig: Ende Januar wurden 360 der in Pozzallo angekommenen Migrant*innen nach Trapani gebracht; das gleiche Schicksal hat eine ungenaue Zahl der Ankömmlinge von Mittwoch getroffen. Die Unterkunft in Viertel Milo von Trapani kann zirka 400 Personen aufnehmen, es ist ein ehemaliges CIE* (Erkennungs- und Ausweisungszentrum), das Ende Dezember zum Hotspot erklärt wurde. Die Verlegung geschah infolge dessen, dass das Aufnahmezentrum in Pozzallo nicht zur Verfügung stand und hat wahrscheinlich auch die Identifizierungsarbeit gefördert. In Fällen der anfänglichen Verweigerung der zwangsweisen Abgabe von Fingerabdrücken, wird psychischer Druck auf die Geflüchteten ausgeübt. Einige wissen tatsächlich schon bei der Anlandung über die Bestimmungen des Dublin-Abkommens Bescheid, das sie dazu verpflichtet, den anfänglichen Aufenthalt im ersten Ankunftsland der EU zu nehmen, in diesem Fall Italien.

Vor einigen Tagen hat die Sonderkommission des Senats für die Wahrung der Menschenrechte den Bericht über die Erkennungs- und Abschiebezentren in Italien veröffentlicht. In dem Dokument finden sich auch einige lapidare Betrachtungen: „Analysiert man die Daten und was während der Besuche herausgekommen ist, kann die Bilanz der neuen Hotspots - fast 5 Monate nach ihrem Start - nicht anders als defizitär beschrieben werden.“ Die größte Schwierigkeit besteht nach der Kommission, mit Vorsitz von Luigi Manconi, in der sicheren Identifizierung. „Es besteht die Gefahr, dass sich die zur Verfügung stehende Zeit, zusammen mit dem riesigen Ausmaß an Arbeit, negativ auf solche Verfahren auswirkt und zu einer oberflächlichen Auswahl führt, wer nach Europa darf und wer nicht, da sie mehr auf Automatismen beruhen als auf sorgfältigen Ermittlungen, die auch subjektive Elemente und die individuelle Geschichte der gelandeten Person miteinbeziehen.“ Dies wäre eine offensichtliche Verletzung der Rechte des Einzelnen.

„Manche Geflüchtete werden schon auf dem Landungssteg lange verhört; häufig passiert es, dass einige getrennt von den anderen auf den Boden gesetzt werden – erzählt Lucia Borghi, eine Arbeiterin des Vereins Borderline; die größte Sorge der Polizist*innen ist es Informationen, Daten und Zahlen zu sammeln, die sie weitergeben können, anstatt demjenigen, der von einer potenziell tödlichen Reise kommt, die Möglichkeit zu geben sich zu beruhigen.“ Die Aktivistin beschreibt ein Bild, das nicht gerade einladend ist: „Während der Landung ist es den Migrant*innen noch nicht einmal erlaubt Toiletten aufzusuchen, da noch heute mobile Kabinen auf dem Landungssteg fehlen.“ Durch die anfänglichen Verhöre tragen sie Informationen bezüglich der Herkunft und Motivation der Migration zusammen. Und sie sind außerdem von Nöten um die Person am Steuer der Boote zu ermitteln.

In den vergangenen Wochen hat sich eine Diskussion über die mögliche Aufhebung der als strafbar gewerteten Tat der heimlichen Einwanderung ausgebreitet. Im Dezember schlug der Justizausschuss der Abgeordnetenkammer die Umwandlung in eine Ordnungswidrigkeit vor, um „dem Gericht die Möglichkeit zu geben, diejenigen, die heimlich nach Italien gelangt sind, zu befragen ohne sie als Beschuldigte zu betrachten, sondern als Opfer eines Verbrechens, des Menschenhandels.“ Die Straftat der heimlichen Einwanderung ist nach Franco Roberti, dem nationalen Staatsanwalt gegen Mafia und Terrorismus, nur „eine Erschwernis der Ermittlungen.“ Die Debatte wurde jedoch dadurch abgewürgt, dass der Premier Matteo Renzi sie, in Übereinstimmung mit dem Innenminister Angelino Alfano, vertagt hat, um "der Öffentlichkeit keine negativen Botschaften bezüglich der subjektiven Sicherheit zu geben".

CIE*: centro di identificazione ed espulsione:
Identifikations- und Abschiebezentrum

Übersetzung aus dem Italienischen von Nele Mülling