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Montag, 29. Juli 2013

Interview mit dem Marinedistriktleiter von Lampedusa, Kapitänleutnant Giuseppe Cannarile, Küstenwache von Lampedusa


Wieviele Rettungseinsätze haben Sie schon gefahren in diesem Jahr? Bis zum 15.7. haben wir 63 Einsätze gefahren und haben 6.792 Personen (Migranten) aus Seenot gerettet. Dem müssen Sie noch ca. 1.000 weitere Personen seit dem 15.7. hinzufügen.

Die Küstenwache rettet ja auch in Seenotrettungszonen (SAR), die nicht zu Italien gehört, wie funktioniert das?
Wenn die Position der Boote eindeutig ist gibt es keine Probleme, wir laufen sofort aus und versuchen, diese schnellstmöglich zu erreichen. Es ist einerlei, wo sie sich befinden, wichtig ist, dass diese Menschen gerettet werden. Das ist unsere Aufgabe. Wenn die Migranten mit einem Satellitentelefon anrufen stellen wir die Position mittels des Betreibers (Thuraya) in Dubai fest. Da verliert man schon ein wenig Zeit. Aber die Einheiten laufen schon einmal aus. Was die SAR-Zonen angeht: uns ist es egal, für die Rettung gibt es keine Grenzen auf See.
Sicher, wir informieren zum Beispiel die lybischen Behörden, wenn sich die Migranten noch in libyschem Seenotrettungsgebiet befinden. Aber wir haben keine festen Gesprächspartner dort, die politische Situation ist instabil. Nicht, dass sie nicht mit uns kommunizieren wollen, aber es funktioniert einfach nicht. Wenn das sich in Seenot befindliche Boot sehr weit von Lampedusa entfernt ist leiten wir andere Schiffe, Handelsschiffe, Fischer, die sich in der Nähe befinden, zur Rettung um, bis wir kommen [siehe z.B. der Fall vom 26.7., als 22 Migranten von einem sinkenden Schlauchboot von zwei Gastankern nahe der libyschen Küste gerettet und nach Lampedusa gebracht wurden. 31 Menschen starben bei dem Unglück, Anmer. der Autorin].
Wenn die Personen schon von anderen Schiffen aufgenommen wurden kann es zu Verhandlungen über die Zuständigkeit zwischen den betroffenen Staaten kommen, ich erinnere mich da an zwei Fälle…

Zum Beispiel der Fall der PINAR E im Jahr 2009?
Ja, zum Beispiel. Die Personen waren in Sicherheit und Malta und Italien, sie waren in der maltesischen SAR-Zone gerettet worden, haben Verhandlungen begonnen, wer sie nun aufnehmen muss.
Wenn wir einen Anruf von einem Satellitentelefon erhalten laufen wir sofort aus, egal, in welcher Zone sich die Migranten befinden.

Wer entscheidet denn, wie der Einsatz läuft?
Die Hafenmeisterei entscheidet [oftmals geht der Anruf in Palermo oder Rom ein, von dort werden dann die Einsätze entschieden], handelt es sich um unser Einsatzgebiet leiten wir dann z.B. zivile und auch militärische Schiffe zur Rettung um. Es ist mir auch schon passiert, dass unser Schnellboot nach dem Auslaufen einen technischen Schaden hatte und in den Hafen zurückkehren musste. Dann läuft sofort unser nächstes Schnellboot aus. Wir arbeiten auch mit den anderen Diensten, dem Zoll, den Carabinieri, der Marine zusammen. Wir rufen auch NATO-Schiffe an, wenn sie sich in der entsprechenden Gegend des Schiffbruchs befinden. Sie gehen natürlich einer ganz anderen Arbeit nach, aber wenn ein Schiff in Seenot ist und sie sich in der Nähe befinden rufen wir sie an und bitten sie, sich an den Unfallort zu begeben.

Wieviele Schnellboote gibt es denn in Lampedusa und können diese bei jedem Wetter auslaufen? Oder müssen Sie, wie früher oft geschehen, die Fischer aus Mazzara mit ihrem großen Schiffen um Hilfe bitten?
Früher war das so, aber nun haben wir vier Schnellboote, die bei jedem Wetter auslaufen können und können somit auch agieren, wenn die See sehr rau ist. An Bord befinden sich normalerweise jeweils fünf Besatzungsmitglieder und zwei Ärzte des Ordens der Ritter von Malta.

Gibt es Frontex auf Lampedusa?
Natürlich gibt es das!

Als aktive Operation? Ist denn die Nautilus-Mission noch im Einsatz?
Nein! Die gibt es nicht mehr. Aber Frontex hat uns zum Beispiel die vier Schnellboote finanziert. Sie unterstützen uns finanziell. Sie zahlen z.B. die Überstunden meiner Männer. Ich habe hier rund 100 Mitarbeiter.
Ein Einsatz mit zwei Schnellbooten in einer Entfernung von 70 Seemeilen (ca. 130 km) kostet circa 80.000 €! So helfen uns die Mittel von Frontex. Aber Frontex bestimmt nicht, was wir zu tun haben, das entscheiden wir. Es gibt keine Frontex-Schiffe. Sie arbeiten anders: nicht die Seenotrettung ist ihre Aufgabe, sondern sie untersuchen die Routen der Schlepper, dagegen kämpfen sie. Sie sind nicht operativ an unseren Seenotrettungseinsätzen beteiligt.

Aber vor einigen Jahren (2007) waren doch Malta und Lampedusa Frontex-Einsatzzentralen für die Operation Nautilus richtig? Mit Kommandant Niosi als Einsatzleiter…
Die Zeiten von Niosi waren andere, es gab andere Probleme. Es gab Schlepper, die auf den Booten mitgefahren sind, und mit Frontex haben sie die Grenzen kontrolliert. Heute setzen sie einen Migranten ans Steuer…

Der Fall Lampione – am 7. September 2012 starben circa 80 Tunsier/innen. Wenn man Artikel darüber liest erstaunt eines: Der Notruf ist um 18 Uhr eingegangen, die Rettung erfolgte aber erst gegen 2 Uhr nachts. Was ist der Grund dafür?
Lampione liegt etwas 12 Seemeilen von Lampedusa entfernt, 22 km. Wenn die Notrufe nicht mit einem Satellitentelefon eingehen können wir nicht genau feststellen, wo sich die Schiffbrüchigen befinden. In diesem Falle haben die Migranten mit einem Handy angerufen und wir wussten damit nur, dass sie sich in der Reichweite vom Netz von Lampedusa befanden, aber nicht genau wo. 20 Minuten nach dem Anruf sind die ersten beiden Schnellboote ausgelaufen. Die Migranten hatten uns aber gesagt, sie befänden sich im Süden von Lampedusa, sie haben Lampione nicht erwähnt! Sie kannten die Gegend nicht. Ich bin Seemann, aber wenn ich mich in Holland befinde und jemand fragt mich, wo ich denn sei, kann ich auch nur sagen, ich sehe eine Windmühle…So ging es auch ihnen, wie wussten nicht, wo sie waren. Auch der Hubschrauber, der sofort losgeflogen ist, hat sie nicht entdecken können. So haben wir sie nicht gefunden. Als der zweite Anruf einging waren schon ein, zwei Stunden vergangen, und wir haben verstanden, dass sie nicht so weit von Lampione entfernt sein konnten. Aber es dauerte, bis wir wieder zurück waren…Wir haben alle Schiffe in der Nähe informiert, aber um 19:30 war es schon dunkel, es war nicht einfach, sie zu finden. Und die ganze Zeit, die wir verloren haben, weil wir erst in die falsche Richtung gefahren waren…Dann wurde auch noch Zeit mit den Übersetzungen verloren. Die Migranten sprachen am Telefon nur arabisch…all das hat uns eine Menge Zeit verlieren lassen.

Gibt es denn einen Leuchtturm auf Lampione?
Wer weiß, wo genau sie sich befanden. Auf Lampione gibt es zwei Probleme: es gibt keinen Leuchtturm, sondern einen Scheinwerfer. Das bedeutet, man sieht ein weißes Licht, das auch das Signallicht eines Schiffes sein könnte. Vielleicht haben sie gedacht, den „Leuchtturm“ zu sehen und er war es gar nicht. Das andere Problem sind die Untiefen. Es ist nicht leicht, an Lampione ranzukommen. Es ist alles voller Felsen im Wasser.

Wir haben gelesen, dass auch eine belgisches “Frontex-Schiff” am Rettungseinsatz beteiligt war?
(Er lacht) Ich weiß nicht, ob dort auch ein belgisches Schiff dabei war, ich erinnere mich nur an die italienischen Militärschiffe und an ein deutsches. Sie waren von der Marine. Auch NATO Schiffe waren vor Ort, um zu helfen.

Hat man denn Überreste des untergegangenen Bootes gefunden? Ist es überhaupt möglich, dass man so gar nichts findet, wenn ein Boot untergeht?
Nein, nichts hat man gefunden. Das ist nicht normal. Wir haben bis Anfang Oktober in einem weiten Umkreis, bis nach Linosa, gesucht. Nichts. Wir haben auch Proben von den Kleidern der Toten entnommen… [9 Leichen wurden zwischen September und November geborgen, Anm. der Autorin].

Linosa, wo auch eine Leiche angespült wurde…
Ja. Wir haben mit der Hilfe von Fischern, all unseren Einsatzmöglichkeiten, eben allen gesucht, aber wir haben nichts gefunden. Normalerweise schwemmen Kleidungsstücke langsam nach oben, wenn sie sich vom Körper lösen, ein bisschen Benzin findet man, ein Stück Holz…aber nichts von alledem.

Was ist denn Ihre Theorie der Ereingnisse?
Auch unter den Migranten selber gab es Widersprüche. Erst sprachen sie von 90, dann von 150, dann von 110 Personen an Bord…wieviele waren es denn nun wirklich? Waren die Telefonate vielleicht nur dazu gedacht, uns abzulenken, damit sie unbemerkt direkt nach Lampedusa fahren konnten? Man weiß es nicht. Am Anfang dacht ich, es seien wirklich nur die Überlebenden an Bord gewesen, erst, als wie die ersten Leichen gefunden hatten war ich sicher, dass es sich um einen Schiffbruch mit mehreren Personen gehandelt haben muss, oder um ein „von-Bord-Stoßen“ durch die Schlepper…
Ein Tag nach dem Unglück ist ein weiteres Boot mit Tunesiern auf Lampedusa angekommen [das berichtete uns auch ein Zeuge, der sogar zwei Boote an den Schiffbrüchigen vorbeifahren gesehen haben will, Anm. der Autorin]. Wer weiß, wie viele Schiffe wirklich losgefahren sind? Das Mittelmeer ist ein großer Friedhof, voll von gesunkenen Schiffen. Wir wissen nicht einmal, wer losgefahren und niemals angekommen ist.

Also gibt es schon einige Widersprüchlichkeiten in dieser Geschichte?
Ja, die gibt es. Eine schwangere Frau hat uns zum Beispiel erzählt, sie sei 12 Seemeilen (22 km) geschwommen. Bei aller Sportlichkeit, das ist unmöglich, vor allem für eine Schwangere.
Ich hoffe wirklich, dass nicht so viele Personen an Bord waren wie sie gesagt haben…


Wir danken dem Kapitänleutnant Cannarile für dieses Interview. Der Fall Lampione scheint ihn, wie man im Interview merkte, mitgenommen zu haben. Er selber richtete das Gespräch mindestens drei Mal im Verlaufe des Interviews wieder auf diese schreckliche Geschichte.


Interview: Judith Gleitze, Borderline Sicilia/borderline-europe
Foto: Hagen Kopp